Ein Novembermorgen

22. November 2020

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Kurz nach 5.00 Uhr klingelt der Wecker. Aber es ist doch Sonntag. Ah, klar, ich gehe heute morgen jagen. Also raus aus dem Bett und einen schnellen Espresso getrunken. Espresso geht immer, sagt zumindest Rainer, und der kennt sich mit solchen Dingen aus. Und ihr wisst es bestimmt schon, zum Jagen muss man RAUS IN DIE NATUR! Und nun lest selbst was mir heute morgen im Wald so durch den Kopf gegangen ist.

Einstudierte Abläufe

Auf dem Weg ins Revier fiel mir auf, dass viele Tätigkeiten an so einem Morgen bei mir fast routinemäßig ablaufen. Waffe aus dem Waffenschrank holen, Ausrüstung ins Auto packen usw. Nur bei der Auswahl des Tees für den Ansitz musste ich kurz überlegen. Alles andere lief wie einstudiert ab. Ist es wohl auch irgendwie. Bei knapp 30 Jahres-Jagdscheinen ist das auch irgendwie klar. Zumal ich es ohnehin mag wenn morgens alles seinen Gang geht und ich nicht erst noch überlegen muss was zu tun ist. Alles was vorzubereiten ist wird am Abend vorher gerichtet dann gibt es morgens keine Hektik.

Angekommen im Revier wird das Auto abgestellt, die Ausrüstung geschnappt und dann geht es zum Sitz. Jetzt in der kälteren Jahreszeit ist ein wenig mehr zu tragen. Ein dicker Ansitzsack gehört für mich dazu, frieren muss nicht unbedingt sein. Der Weg ist gefroren und ich muss sehr vorsichtig zum Hochsitz gehen um nicht gleich das komplette Wild zu warnen. Dabei gehe ich immer an der bergseitigen Wegseite um die Schritte nicht zu weit klingen zu lassen. Der Hochsitz ist schemenhaft gegen den Himmel zu erkennen. Weil ich aber schon etliche Male hier gesessen habe hätte ich ihn vermutlich auch bei dickem Nebel gefunden. So, jetzt einrichten in dem kleinen Häuschen und schnell in den wärmenden Ansitzsack geschlüpft. Auch das Laden der Waffe ist schon längst ein automatischer Vorgang. Funktioniert selbst bei totaler Dunkelheit. Muss es auch,  Sicherheit ist schließlich kein Luxus. Nachdem ich schon ein paar Minuten hier oben verweile habe ich das nachfolgende Bild geschossen.

Ankunft

Ich bin angekommen. Der Wald hat mich (mal) wieder bei sich aufgenommen. So empfinde ich es oft wenn ich draußen auf der Jagd bin. Geräusche und Tierlaute werden zu einem Konzert, welches jetzt im November nicht mehr so laut spielt wie in den wärmeren Jahreszeiten. Der Waldkauz gibt alles um eine Partnerin zu finden, oder schon um sein Revier zu markieren. Irgendwo weiter entfernt schreckt ein Reh. Das "Schrecken", also der Warnlaut des Rehwildes hört sich für viele Menschen, die es noch nie gehört haben oder es nicht zuordnen können, wie Hundegebell an. Dieses Reh hat vermutlich etwas gerochen oder gehört was es nicht zuordnen konnte. Deshalb gab es diesen Laut von sich. Bei Rotwild hört sich dieser Schrecklaut an wie wenn man in ein leeres Faß schreit. Sehr tief von der Tonlage und auch weithin gut hörbar.  - Links oberhalb von mir sucht ein Rehkitz seine Mama, vermutlich hat es in der Dunkelheit kurz den Kontakt verloren. Es ist jetzt kurz nach 7.00 Uhr, der Wald erwacht aus dem täglichen Schlaf aus dem er jeden Tag erwacht. Die Vogelstimmen werden mehr und es hört sich an als ob sie sich freuten wieder eine Nacht überlebt zu haben. Aber geht es uns Menschen nicht genauso? Viele Menschen die ich kenne und mit denen ich mich unterhalte, erzählen mir, dass sie Angst vor oder in der Dunkelheit haben. Das ist diese Urangst, die auch nach sehr vielen Generationen einfach nicht weggeht. Wobei ich mich im Wald noch nie geängstigt habe, im Wald fühle ich mich sicher. Auch und vor allem in der Nacht. Der Wald ist mein Zuhause und meine Heimat. Das wird mir immer wieder klar wenn ich länger nicht mehr in der Nacht draußen war. Und als gestern abend die Nachricht auf mein Handy kam: "Morgen früh Ansitz?  Kanzel 48, was der Jagdschein hergibt!" , da war das wie ein Ruf. Sozusagen der Lockruf des Waldes.

Die Geburt der Welt

Weitere 45 Minuten und es kam wie es kommen musste. Der Tag bricht an oder schöner formuliert:

Eine Geburt der Welt, die jeden Tag stattfindet

Dieser Satz kam mir in den Sinn als ich so die Natur beobachtete und meinen Gedanken nachhing. Dieser zitierte Satz stammt von Harald Holzmann. Harald ist, unter anderem, ein Schwarzwald-Guide-Kollege von mir. Und dieser Satz von ihm war mir in Erinnerung geblieben und hatte mich vor einiger Zeit berührt und tut es auch heute noch. Ich habe euch davon in meine Beitrag "Gib mir Sonne" schon berichtet. Und ich finde es trifft es wirklich gut. Ich empfinde es wie ein Versprechen, dass auf eine Nacht auch wieder ein Tag folgt. Mehr Zuversicht und (Gott)Vertrauen gibt es nicht. So sieht es wohl auch der Kleiber der keine 3 Meter vor mir die Lärche erklimmt. Die Nacht ist vorbei, jetzt ist es Zeit für ein leckeres Frühstück. Er sucht systematisch die Borke des Baumes nach Fressbarem ab. Und er weiß dass von mir keine Gefahr ausgeht. Aber das Eichhörnchen auf dem Nachbarbaum ängstigt ihn wohl mehr als ich es getan habe. Er fliegt ein paar Bäume weiter und ist erst mal in Sicherheit.

Selbstgespräche

Oft erwische ich mich, meist in Momenten in denen ich konzentriert bin oder in denen ich nachdenke, dabei, wie ich mich mit mir selbst unterhalte. Wenn ich es bemerke, hoffe ich immer, dass das nicht ein Anzeichen für eine Krankheit ist. Als Trost fällt mir dann oft das Zitat von Christian Morgenstern ein:

Genau betrachtet, ist alles Gespräch nur Selbstgespräch.

Was mir aber aufgefallen ist, wenn ich in Gedanken Gespräche mit mir selbst führe, dann bin ich komplett im Dialekt. Anders sieht es aus wenn ich mich laut mit mir selbst unterhalte. Da rede ich keinen Dialekt. Dabei geht es aber auch oft um belanglose Dinge. In Gedanken sieht das anders aus. Da bin ich ernsthafter und konzentrierter. Da werden in tiefstem Murgtaldialekt Dinge die mich beschäftigen erörtert. Und es kommt dann vor dass ich von lautloser Kommunikation in gesprochene Sprache wechsle. Vielleicht kennt das ja auch der eine oder die andere von euch. Leben am Limit!  Im Wald läuft selbstverständlich alles lautlos ab, soweit  habe ich mich dann im Griff.

Beim Dialekt fängt die gesprochene Sprache erst an (Chr. Morgenstern)

Kommunikation

Heute morgen zähle ich ungefähr 7 Vogelarten die sich in Kommunikation üben. Den Waldkauz habe ich schon erwähnt. Meisen, Finken, Specht und Eichelhäher lassen auch was hören ebenso der vorgenannte Kleiber. Und ein Vogel der erst wieder seit ein paar Jahren in unserer Gegend brütet. Es ist der Kolkrabe (Corvus corax), dessen markanter Ruf total unverwechselbar ist. Es ist sein Ruf der mich aus meinen Gedanken reißt während ich suchend in die Umgebung schaue. Es ist diese eine Frage die mich im Moment mit am meisten beschäftigt. Wie kommuniziere ich bzw wir? Wird es von meinem Gegenüber verstanden was ich sage oder rede ich unverständlich. Verstehe ich meine Mitmenschen und verstehen sie mich? Und vor allem was könnte ich verbessern wenn es nicht so läuft wie ich es gerne hätte? In Zeiten der elektronischen Kommunikation via Messengerdienste kommt es mir oft vor, dass ein großer Teil der Nachrichten nicht so beim Empfänger ankommt wie es der Sender beabsichtigt hatte. Deshalb teile ich, meist mit Menschen meiner Generation, die völlig altmodische Art der Unterhaltung. Es nennt sich "Gespräch". Am liebsten direkt, sozusagen frontal. Oder in diesen speziellen Zeiten auch mittels Fernsprecher, auch Telefon genannt. Besonders gerne unterhalte ich mich am Lagerfeuer. Wobei es sein kann, dass ich mit einer Person die ich "Freund" nenne, an einem Abend am Feuer nicht unbedingt viel reden muss. Wir wissen eben was der andere meint, auch ohne viel Worte. Fast so wie viele Vogelarten, die auch keine ausschweifenden Gespräche führen müssen um zu wissen was der andere meint. Die Vibration meines mobilen Kommunikationsgerätes holt mich aus meinen Gedanken. "Ich baume ab" steht auf dem Display. Heißt so viel wie "ich geh jetzt heim". Beim Blick auf meine Uhr stelle ich fest dass ich nun seit ca. 3 Stunden hier sitze. Das stellt im übrigen auch mein Körper fest. So eine Hochsitzbank, oder besser ein Brett, ist halt kein bequemes Sofa. Von Christian Morgenstern kenne ich das Zitat:

Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare

Demnach muss ich komplett versteift sein in meiner Seele, zumindest heute morgen. Vermutlich liegt es aber nur an der ungewohnten Sitzhaltung. Hoffe ich zumindest. Aber der Blick ins Tal entschädigt mich für fast alles.

Am Ende eines Beitrages in dem ihr doch einiges von mir und über mich erfahren habt möchte ich euch noch ein Bild zeigen. Dieses Bild hat für mich bei genauerem Hinsehen eine gewisse Symbolkraft, vor allem in der heutigen Zeit und in unserer besonderen Situation. Aber seht selbst:

Ein Weg, der von Wurzeln gehalten wird, oder der meinen Weg erschwert? Darüber lässt sich streiten. Ich sehe eher das erstere, und vor allem zeigt er mir eines. Die "Hindernisse" werden überwunden und ich gehe meinen Weg weiter. Denn dazu sind Wege da, um sie zu gehen! Oder um es mit Tschuang-Tse (chin. Philosoph, ca. 300v.Chr.) zu sagen:

Alle kennen den Nutzen des Nützlichen, aber niemand versteht den Nutzen des Nutzlosen